40 Jahre Diakonische Arbeitsgemeinschaft
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40 Jahre „Diakonische Arbeitsgemeinschaft evangelischer Kirchen in Deutschland“ aus freikirchlicher Sicht
Von Pastor Günter Hitzemann, Direktor i.R. des Diakoniewerkes Bethel e. V., Berlin, Vorsitzender der DAeK 1984 - 1988
Ein ökumenischer Lernprozess
An vierzig Jahre „Diakonische Arbeitsgemeinschaft evangelischer Kirchen“ kann man sich nur mit großer Dankbarkeit gegen Gott und die von ihm berufenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen erinnern. Trotz gelegentlich schwieriger gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse war dies alles andere als eine „Wüstenzeit“, vielmehr ein gemeinsamer Weg des Dienens, auf dem sich in Ost und West ein in weiten Teilen partnerschaftliches Verhältnis zwischen Landeskirchen und Freikirchen sukzessiv entwickelte. Die Qualität der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Vertrauens, wie sie im Bereich der Diakonie heute besteht, ist auf andern Feldern der Ökumene noch längst nicht erreicht. In einer Zeit, die vielfach den Eindruck der Stagnation der ökumenischen Beziehungen erweckt, ist es deshalb umso wichtiger, sich an den ökumenischen Lernprozess innerhalb der Diakonie der evangelischen (Frei-)Kirchen zu erinnern. Das Beispiel der Diakonie, in der sich angesichts der unermesslichen Not der Nachkriegszeit erstmalig Landeskirchen und Freikirchen zu zwischenkirchlichen Vereinbarungen bereitfanden, (seit 1945 im Hilfswerk evangelischer Kirchen, aus dem 1957 die Diakonische Arbeitsgemeinschaft entstand) kann gerade heute, wo der Sozialstaat an seine Grenzen stößt, ermutigend wirken. Dazu soll dieser Bericht und wie ich hoffe auch das gesamte Jubiläum beitragen. Aus freikirchlicher Sicht hat die diakonische Zusammenarbeit mit den Landeskirchen eine herausragende Bedeutung, da die Freikirchen hier, im Unterschied zur institutionalisierten Ökumene, mit ihrem Erbe und ihrer Spiritualität stets als gleichrangige Partner wahrgenommen wurden und werden.
Nach vierzig Jahren fällt es aber auch schwerer, als es zunächst scheint, die intentionalen und essentiellen Entwicklungen nachzuzeichnen, die sich in der Diakonischen Arbeitsgemeinschaft vollzogen haben. Den Weg „unserer“ Arbeitsgemeinschaft habe ich seit den 60er Jahren als Leiter eines freikirchlichen Diakoniewerkes, aber vor allem als Mitglied des Präsidiums der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) und des Diakonischen Rates der EKD mit begleitet und wohl auch ein wenig mitgestaltet. Leichter wäre es dagegen, lediglich auf die sichtbaren und sicherlich beachtlichen Leistungen der Hilfswerke von Landeskirchen und Freikirchen hinzuweisen, die z. B. nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zum Überleben vieler Menschen im geteilten Deutschland entscheidend beitrugen.
Ich habe meinen Artikel mit dem Stichwort „ökumenischer Lernprozess“ überschrieben, weil damit - neben aller sichtbaren Hilfe - das Bleibende und auch Zukunftsweisende unserer Arbeitsgemeinschaft markiert wird. Deutlich wird dieser Lernprozess etwa in der Erinnerung an die Aufarbeitung der Kriegsfolgen und die Gestaltung einer neuen Sozialordnung in der Bundesrepublik durch gemeinsame Anstrengungen der Kirchen. Dabei hat die Diakonie eine Schrittmacherrolle bei der Entdeckung oder Neuformulierung sozialer Aufgaben unter Beweis stellen können, die von westlichen Militärbehörden und in späteren Jahren staatlicherseits dankbar aufgegriffen wurden. Es waren gerade die deutschen Freikirchen, die durch ihre spezielle Geschichte, ihre Situation als Minderheitskirchen und ihre Frömmigkeit dem politischen Mandat der Großkirchen sehr zurückhaltend gegenüberstanden, die sich durch die Kooperation mit dem Diakonischen Werk ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stärker bewusst wurden. Ihnen bot die Diakonische Arbeitsgemeinschaft erstmalig eine Plattform für ein öffentlichkeitsrelevantes Engagement.
Ein besonders eindrückliches Zeichen für diese gemeinsam wahrgenommene Verantwortung stellt die 1955 gegründete Aktion „Brot für die Welt“ dar. In den Freikirchen, die angesichts der durch die Großkirchen dominierten Situation in Deutschland stets um ihre Anerkennung ringen und sich gegen den latenten Sektenverdacht in der Öffentlichkeit wehren mussten, bedeutete die Beteiligung an dieser weltweiten Katastrophen- und Entwicklungshilfe eine herausragende ökumenische Öffnung, die sich auch auf der Gemeindeebene rasch durchsetzte. Die hohe Spendenbereitschaft belegt auch vier Jahrzehnte danach noch die große Akzeptanz, die diese gemeinsam verantwortete Aktion in den Freikirchen besitzt. Im gemeinsamen Helfen fanden also die protestantischen Kirchen in Deutschland, die sich beginnend in der Reformationszeit, vor allem aber seit der Mitte des 19. Jahrhunderts fremd und sogar feindlich gegenüber gestanden hatten, zueinander.
Das neue Miteinander von Freikirchen und Landeskirchen in der Diakonie zeigte sich aber nicht nur im gemeinsamen Dienst für andere, sondern wurde auf Seiten der Freikirchen auch in der Beratung und Förderung der eigenen diakonischen Einrichtungen erfahren. Besonders in Rechts- und Wirtschaftsfragen stießen die Freikirchen bei den Verantwortlichen der Diakonie nicht nur auf kompetentes Expertenwissen, sondern fanden zugleich verständnisvolle Partner, die dem Proprium der freikirchlichen Diakonie „in der Öffentlichkeit“ Gehör und Anerkennung verschafften. Der genuin strukturschwachen freikirchlichen Diakonie in Deutschland erwuchs im Diakonischen Werk mit seinen institutionellen Möglichkeiten eine dringend benötigte funktionale Basis und infrastrukturelle Entlastung. Ohne diese beachtliche Förderung seitens des Diakonischen Werkes, die von den einzelnen freikirchlichen Gemeinden wohl nicht immer gebührend wahrgenommen wurde, könnten die Freikirchen und ihre Werke ihre Dienste nicht im gegenwärtigen Ausmaß erfüllen. So wäre etwa die intensive Expansion des Diakoniewerkes Bethel (Berlin) in den 70-80er Jahren, die ich als Vorsteher miterlebt habe, ohne die vertrauensvolle Kooperation mit dem Diakonischen Werk undenkbar gewesen. Gleiches könnte von vielen Einrichtungen der Mitgliedskirchen der VEF ausgesagt werden.
Von diesem ökumenischen Lernprozess, den ich ansatzweise skizziert habe, bin ich als Mitglied in den verschiedenen Gremien der Diakonie auf Bundes- und Landesebene auch ganz persönlich betroffen. Ich bin dankbar für die Begegnung mit Schwestern und Brüdern aus den Landes- und Freikirchen, die ich ohne diese Zusammenarbeit nicht erlebt hätte. In der Zeit meines Vorsitzes in der Diakonischen Arbeitsgemeinschaft gehörte die Vorstellung der einzelnen Mitgliedskirchen als fester Bestandteil zur Tagesordnung. Wir nahmen uns Zeit, unser jeweiliges konfessionelles Selbstverständnis darzulegen und über unsere diakonischen Tätigkeiten im Einzelnen zu berichten. Ich möchte hervorheben, dass ich in keinem kirchengeschichtlichen Seminar qualitativ vergleichbare, detaillierte und realitätsbezogene Informationen über andere Kirchen und Denominationen erhalten habe.
Wir bemühten uns in allen Beratungen um eine zeitgemäße Konzeption des christlichen Lebens als Dienst für den Herrn an der Welt. Für die Umsetzung des diakonisch-missionarischen Auftrags nach dem Zweiten Weltkrieg war, wie häufig festgestellt wurde, vor allem die Fähigkeit zur Improvisation und Organisation gefragt. Es verdient jedoch festgehalten zu werden, dass nach der sogenannten „Pionierzeit“, die Mitte der 50er Jahre auslief, systematisch-theologische Überlegungen nicht länger zweitrangig waren, sondern ganz bewusst Priorität erhielten. Wie viele theologische Grundsatzartikel von hohem Niveau sind gerade zwischen 1960-90 vom Diakonischen Werk publiziert worden! Besonders die Veröffentlichungen der jeweiligen Präsidenten stellten wichtige Beiträge dar, deren wegweisende und prägende Wirkung über den eigenen Bereich hinaus Anerkennung fanden. Die theologische Grundlagenforschung der damaligen Jahre bildete ein komplementäres und vielleicht sogar kritisches Gegengewicht gegen gesellschaftliche Strömungen, die eine zunehmende „Verrechtlichung“ und Bürokratisierung auch der diakonischen Arbeit zur Folge hatten. Die geistige und geistliche Leidenschaft, von der die damalige Zusammenarbeit geprägt wurde, hatte eine historisch kontingente Dignität, die den damals nicht Beteiligten zwar bezeugt, aber nur schwerlich vermittelt werden kann. Es war eine Zeit, in der die Diakonie in all ihren Bereichen expandierte, wozu neben der Kreativität der einzelnen Werke auch die Förderung der öffentlichen Hand im Rahmen des „Subsidiaritätsprinzips“ wesentlich beitrug. Wir konnten vieles tun, weil uns viel anvertraut wurde. Dies gilt unbeschadet mancher zu beklagender Fehlplanungen und Überkapazitäten, die bisweilen den tatsächlichen Bedarf an sozialen Einrichtungen falsch prognostizierten. Wir haben m. W. gleichwohl stets partnerschaftlich, uneigennützig und ohne konfessionelle Engführung das Wohl unserer Mitmenschen zu fördern gesucht.
Ich erinnere mich an keine Beratung, die ohne intensive Erörterung der Situation der Diakonie in der DDR verlief. Die Verantwortlichen des Diakonischen Werkes berichteten regelmäßig über die vielfältigen Möglichkeiten der Hilfeleistung. An geeigneter Stelle wird darüber ausführlicher zu berichten sein. Hier bleibt nur festzuhalten, dass auch die freikirchlichen Einrichtungen finanzielle Mittel aus der "Sammlung kirchlicher Wiederaufbau in der DDR", die von den westdeutschen Landeskirchen durchgeführt wurde, erhielten.
Was bleibt im Blick auf die vor uns liegende Zeit der Diakonischen Arbeitsgemeinschaft zu sagen? Angesichts der gegenwärtigen ökumenischen Situation gewinne ich zunehmend den Eindruck, dass wir das Erreichte kaum noch angemessen würdigen. Ein Grund dafür ist sicher die mangelnde Einsicht in die Schwierigkeiten, die am Anfang der diakonischen Zusammenarbeit von Landeskirchen und Freikirchen bestanden. Oft wird vergessen, dass es bis in die Nachkriegszeit hinein keine nennenswerten offiziellen ökumenischen Kontakte zwischen Landeskirchen und Freikirchen in Deutschland gab. Die konfliktreiche Geschichte dieses [Miss-)Verhältnisses - ausgehend von landeskirchlicher Polemik und Repression in der Entstehungszeit der Freikirchen bis hin zur Desolidarisierung letzterer von der Bekennenden Kirche in der NS-Diktatur - muss aus heutiger Sicht als ein bedauerliches Zeugnis fortwährenden Unverständnisses bar jeder ökumenischen Gesinnung erscheinen.
Daran änderte auch der totale wirtschaftliche und geistige Zusammenbruch Deutschlands am Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst nichts. Wie die Quellen zeigen, setzte erst die von außen herangetragene Aufforderung des sich konstituierenden Ökumenischen Rates den kooperativen Prozess zwischen Landes- und Freikirchen in Deutschland in Gang. (Vgl. dazu A. Strübind, Freikirchen und Ökumene in der Nachkriegszeit, in: KZG 6, 1993, S. 87-210). Auch die Einbeziehung der deutschen Freikirchen in die Wiederaufbauhilfe wurde zunächst nur auf Druck des ÖRK in Genf realisiert. Die ökumenische Zusammenarbeit war daher anfänglich nicht das Ergebnis einer genuin theologischen Entdeckung und speiste sich auch nicht aus dem Bewusstsein gemeinsam erlittener Not, sondern kam auf Druck der internationalen Ökumene zustande. Die in gewisser Weise „aufgenötigte“ Zusammenarbeit entwickelte sich jedoch überraschenderweise in den vergangenen vierzig Jahren zu einem bewährten partnerschaftlichen Miteinander von Landes- und Freikirchen, das heute in Umkehrung der Anfänge als Vorbild für den innerdeutschen ökumenischen Prozess dienen kann.
Die Chance des 40jährigen Jubiläums der Diakonischen Arbeitsgemeinschaft liegt m. E. darin, dieses partnerschaftliche Miteinander von Landes- und Freikirchen immer neu mit Leben zu erfüllen. Dies ist auch darum vonnöten, weil in unseren Kirchen längst die Jahrgänge die Mehrheit bilden, die nicht mehr, wie wir Älteren, die existentielle Bedeutung von gegenseitiger Solidarität und Förderung aufgrund eigener Katastrophenerfahrung erleben. Der ökumenische Lernprozess innerhalb der Diakonie muss weitergehen, gerade in einer Zeit, in der aufgrund der Entkirchlichung und geringer werdender Mittel ein neuer Konfessionalismus zu befürchten ist. Die in vierzig Jahren erreichte und bewährte Partnerschaft von Landes- und Freikirchen in der Diakonie muss unumkehrbar bleiben, was auch immer kommen mag. Denn die Ökumene ist eine "Zukunftsbranche der Kirche" (A.Strübind). Dies gilt auch für ihre Diakonie. Und dafür lohnt sich jeder Einsatz, zu dem Christus uns seinen Beistand verleihen möge.
Aus: 1957-1997. 40 Jahre Diakonische Arbeitsgemeinschaft evangelischer Kirchen. Hrsg. Diakonische Arbeitsgemeinschaft evangelischer Kirchen. Stuttgart, 1997. Seite 37-41.